Panorama

‹Panorama› is a sitespecific installation all the way round the 26 meter long walls oft the Kunsthalle. Using art posters as the raw material Kühne/Klein broaden their way of constructing collage worlds by yet another layer.

Gabrielle Obrist: Sehkreis, Brennglas und Vogelperspektive


 

PANORAMA

Sehkreis, Brennglas und Vogelperspektive

Das Panorama schafft Überblick. Es erweitert den optischen Horizont und fasst künstlerisch geschickt zusammen, was von uns Betrachterinnen und Betrachtern in Wirklichkeit nur Schritt für Schritt, Blickwinkel für Blickwinkel zu sehen möglich ist.
Der Wunsch der Künstler, die beobachteten Landschafts- oder Stadtszenerien der realen Welt in einem fortlaufenden Bild zu bündeln und uns so eine konzentrierte wie erweiterte Erfassung der Topographie, Vegetation und urbanen Gegebenheiten zu bieten, reicht weit zurück. Maler in der Renaissance brachten hierin als erste zeichnerisch-perspektivische Meisterleistungen hervor. Im Barock und 19. Jahrhundert entstanden – darauf fussend – Wirklichkeits-Illusionen als grandiose Augentäuschungen.
Angesichts der Vielzahl und des Variantenreichtums solcher Anschauungen möchte man meinen, die Möglichkeiten dieser künstlerischen Disziplin seien à fond ausgelotet. Doch weit gefehlt – noch immer fordert diese besondere Form der Wirklichkeitserfassung zeitgenössische Kunstschaffende zu neuen Gestaltungsstrategien.

Die Künstler Hendrikje Kühne und Beat Klein haben bei ihrem Sehkreis hier in der Kunsthalle Wil ein ganz ungewöhnliches Illusionskonzept entwickelt: Ihre Kunst fungiert sozusagen als Brille und Brennglas für den Blick in die Welt. Sie haben für uns eine raumumspannende Szenerie als Ausstellungs-Horizont entfaltet und bedienten sich dabei einer besonderen Technik – sie verwendeten statt Farbe und Pinsel Schere und Leim; ihr künstlerisches Medium ist die Collage. Als Grundlage und Arbeitsmaterial dient ihnen hierbei die Fülle mehr oder weniger abstrahierter Bildwelten in der Malerei vergangener Jahrhunderte, welche in Form von Kunst-reproduktionen reichhaltig greifbar ist.

Solch bestechende Bildfindungen, gefügt aus ausgeschnittenen Extrakten dieses Abbildungs-reservoirs, sind übrigens seit je unverkennbare Schöpfungen der beiden Kunstschaffenden, mit welchen sie schon in früheren Werken ganz unterschiedlicher Ausprägung verblüfften und in dicht inszenierten Ausstellungen die Besucherinnen und Besucher jeweils faszinierten.

Für die Kunsthalle Wil haben Hendrikje Kühne und Beat Klein nun also erstmals diese neue Gestaltungsform des grossangelegten Panoramas erprobt. Die Verwendung von Kunstplakaten als Quelle für ihre Bildbauteile erlaubt es ihnen, ihre Kompositionen in einen nahezu realräumlichen Massstab überzuführen und so das betrachtende Visavis Teil der fiktionalen Rundum-Landschaft werden zu lassen: Auf Augenhöhe zieht uns dieser bizarre und doch irgendwie auch realistisch anmutende Bilderfluss in Bann.

Kühne/Klein verzichten bei ihrem Wiler Panorama gänzlich auf die Kreation eines fiktiven Himmels, vielmehr nimmt die Wand über der Horizontlinie die Funktion des Himmelszelts ein, so dass sich für uns Betrachtende der Eindruck verstärkt, wir seien in der Position der Ausschauhaltenden und würden uns selbst im Raum der erfundenen Kunst-Landschaft befinden. Wir werden zu Flaneuren, indem wir dem Panorama entlangspazieren und die Augen unablässig im Bild schweifen lassen. Das Schauen gleicht einem Sog – wie in einem Film auf Grossleinwand entrückt uns die Weitwinkelperspektive; wie bei der Lektüre eines literarischen Texts erschliessen sich unserer Phantasie fortlaufend innere Bilder und Erzählstränge.

Und gerade in der Verwendung von Gemälde-Reproduktionen liegt die Finesse dieser Collage: es reihen sich pointillistische Stadtsilhouetten an expressive Landschaftsausschnitte, kubistische Figurengruppen stehen neben surrealen Traumgespinsten, detailgetreue Zeichnungen prallen auf gestischen Farbenrausch. So verschränken die beiden Künstler Malstile und Wirklichkeitsinterpretationen aus zahlreichen Epochen bar jeder Chronologie, was für erkundungsfreudige und kunsthistorisch versierte Betrachterinnen und Betrachter manche Überraschung bieten mag.

Dank kluger Verdichtung, gekonnter Rhythmisierung und unerwarteter Verfremdungen zeigt sich Kühne/Kleins Panorama als Werk von cineastischer Intensität und als exklusives Artefakt. Die beiden Künstler wissen sich schöpferisch der überlieferten und bewährten Kunstgriffe zu bedienen, wenn sie beispielsweise an Schlüsselstellen in barocker Manier auf prominente Repoussoir-Motive setzen, um so den Blick beschleunigt in die Bildtiefe zu lenken.

Sie führen Spielarten von Farb- und Luftperspektive vor, wodurch sie die Tiefenillusion der Szenerie steigern. Und sie fokussieren die Aufmerksamkeit durch geschickte farbliche Akzentuierungen.

So variieren sie unaufhörlich den Betrachter-Standpunkt wie Blickwinkel: Das Werk nimmt das Auge in Beschlag und treibt es zu immer neuen Entdeckungsgängen an. Die Bildteile sind ausserdem verstrickt mittels formal wie motivisch verwegener und absurder Bezüge – Raffinement erster Güte.

Nicht zufällig ist – quasi am Eingang zum Kühne/Kleinschen Sehkreis – die Präsenz der beiden Bildovale, die das Ganze als vermeintliches Augenpaar überblicken. Bei der Formgebung der Bilder stand die aus der Barockarchitektur entlehnte Fensterform Oeil de beuf Pate; so muss es uns denn umso mehr scheinen, dass wir mit einem Zwinkern zu lustvollem Schauen ermuntert werden.

Im zweiten facettenreichen Ausstellungsteil auf der Galerie huldigen Hendrikje Kühne und Beat Klein dem Topos Wald und seinen gefiederten Bewohnern. Der hier in der Halle eben erst in die Ferne schweifende Betrachter-Blick wird nun ins Unterholz gelockt und auf das naheliegend Verborgene fixiert. Einmal verführt ein sonnendurchfluteter Waldweg zum Eintauchen ins geheimnisvolle Idyll, dann wieder warnt die Bildkulmination des Dickichts vor den lauernden Gefahren und Abgründen in der Tabuzone. Es ist erstaunlich und entbehrt jeder Logik, was da so kreucht und fleucht – sich darauf einen Reim machen zu wollen, ist vollkommen müssig, aber höchst vergnüglich.

Für die Ornithologen unter uns halten Kühne/Klein schliesslich eine zoologisch spektakuläre Kolonie von Piepmatzen bereit, die sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden haben. Ihren meist waldigen Lebensraum tun diese kund, indem sie nebst ihrem farbenprächtigen Federkleid rückseitig eine Holzfurnier-Imitation zur Schau tragen. Die aus Schablonen zusammen-gesteckten kleinen Vogelscharen bilden in solcher Konstellation gleich ihr eigenes Strauchwerk, aus dem heraus sie keck und unbehelligt die Nahrungs- und Paarungssituation im Gebälk der Kunsthalle Wil inspizieren.

Gabrielle Obrist